Ein Hoch auf unsere Kinder!
Ich möchte an dieser Stelle einen Toast auf unsere Kinder und Jugendliche aussprechen und somit diejenigen würdigen, die im Augenblick in all dem Trubel und den Irrungen und Wirrungen der Bestimmungen in der Pandemie vergessen werden.
Liebe Kinder und Jugendliche, ihr habt es klasse hin bekommen!
Ihr wurde von heute auf morgen daheim auf euch selbst gestellt: Hausarrest mit uns (zum Teil von der Pandemie angespannten) Eltern.
Ihr habt es uns, euren Lehrern, verziehen, dass wir wie die digitalen Neandertaler in den ersten Monaten des Lockdowns versucht haben, euch zu unterrichten.
Ich betone: versucht haben. Denn sind wir ehrlich, wir Lehrer haben die Digitalisierung erst lernen müssen. Ihr wart unsere Testpersonen in der Lehrzeit. Manche Lehrer haben diese Lehrzeit mit viel Engagement durchlaufen, manche mit dem euch, liebe Jugendliche, bestimmt vertrauten Minimalismus…
Ihr habt es uns nachgesehen und habt nach euren Möglichkeiten versucht, damit zurecht zu kommen.
Normalerweise ist diese Zeit in eurem Leben dazu gedacht, dass ihr euch abnabelt von euren Eltern. Euch mit Gleichaltrigen trefft und somit eine ganz wichtige Entwicklungsstufe in eurem Leben angeht. Sich selbst in der Gruppe der Gleichaltrigen zu sozialisieren, sich zu behaupten, sich zu messen und sich auch einzubringen. Das wurde euch jetzt im Augenblick komplett genommen.
Stattdessen jammern wir Eltern über eure fehlende Motivation, eure Lethargie und euren fehlenden, schulischen Leistungsgedanken.
Interessanterweise sind wir Eltern genau mit den gleichen Muster, den gleichen Dämonen der Pandemie unterwegs. Kinder geraten ja selten nach anderen Eltern.
Aber klar: wir sind die Eltern und können euch somit dafür zurechtweisen. Oft kommt es leider dazu, dass wir unseren eigenen Stress nach unten durchreichen: an euch, die ihr in der Familienhierarchie eine Stufe weiter unten steht.
Liebe Jugendliche, ihr habt viel Kritik und Ungerechtigkeit über euch ergehen lassen müssen: Kritik von Eltern und Lehrern, weil ihr nicht so am Online- Unterricht teilgenommen habt, wie ihr es solltet.
Ungerechtigkeit von der Politik während der Pandemie, weil ihr keine Lobby habt, die eure Interessen würdig vertreten hätten. Von dort wurde euch sogar noch suggeriert, dass ihr durch den Online-Unterricht die intensivere Form von Unterricht hättet.
Dabei ist es in den meisten Haushalten gar nicht selbstverständlich, dass genügend Laptops oder ausreichend WLAN vorhanden ist, um am Online-Unterricht adäquat teilzunehmen. Und nicht alle Familien konnten oder wollten dies auch. Auf den Elternforen wimmelte es von Forderungen, das Kopiergeld für das Schuljahr zurück zu bekommen… das schien die größte Eltern-Sorge zu sein.
Ihr, liebe Jugendliche, solltet on dieser Zeit Abschlüsse schreiben, und bekamt dabei vom Kultusministerium gesagt, dass darauf keine Rücksicht genommen wird, dass ihr über eineinhalb Jahre unter Umständen unterrichtet wurdet, die noch nie jemand vorher in dieser Form erleben musste.
Ihr wurdet in der Öffentlichkeit dafür sogar noch abgeurteilt, als ihr anmerktet, dass zum Beispiel das Mathe-Abitur zu schwer gewesen war. Dabei seid ihr mit dieser Aussage gar nicht allein gewesen: sie wird sogar von eurem Lehrer noch bezeugt.
Aber sogenannte Experten bescheinigen: das Mathe-Abitur wäre machbar gewesen.
Ich möchte diese Experten gerne einmal eineinhalb Jahre in einer wichtigen Entwicklungsphase daheim mit ihren Eltern einsperren und in einem neuen Fachgebiet unterrichten lassen: ohne Ausgleich durch Freizeit und Sport. Nur über online von Menschen, die nicht gelernt haben, online zu unterrichten. Und dann prüfen wir diesen gelernten Stoff ab…
Ich bin mir sicher, dass es dann nicht mehr „machbar“ ist.
Liebe Jugendliche, ihr habt tapfer gekämpft.
Und jetzt? Jetzt werden die Hotels und die Gastro wieder geöffnet und ihr bekommt eine Woche Nachhilfe-Unterricht in den Ferien in der Schule.
Alles wieder gut?
Nichts ist gut! Ihr habt eineinhalb Jahre eure Geburtstage nicht mit Freunden, sondern nur mit eurem engsten Familienkreis gefeiert. Eure Feiern für die Abschlüsse, für den Führerschein: alles Meilensteine in eurem Leben, wurden einfach auf Sparflamme gekocht.
Ihr habt verdient, dass wir Erwachsene euch dafür Respekt zollen.
Ein Hoch auf euch!
Ich hoffe, dass viele Eltern, Psychologen, Lehrer, Kritiker der Jugend diesen Artikel lesen, damit ihnen einmal bewusst wird, dass wir unseren Jugendlichen im Augenblick eine Entwicklungsstufe einfach vorenthalten haben und jetzt zu tun, als ob alles okay wäre.
Das ist es nicht!
Ihr, liebe Jugendliche, wurdet einfach vergessen und jetzt soll euch ein kleines Bonbon, dass auch noch bitter schmeckt, in Form von Feriennachhilfe den Eindruck geben, dass jetzt alles wieder gut ist.
Ihr leidet ja immer noch unter der Situation und hab jetzt gefühlt nur die Möglichkeit, euch durch Impfungen euer eigenes Leben wieder zurück zu erobern.
Ganz ehrlich: ihr habt doch gar keine andere Wahl.
Entweder die Impfung oder ihr bewegt euch in der Grauzone der Legalität, wenn ihr euch wieder mit Euren Freunden trefft.
Liebe Jugendliche, ihr habt mein höchsten Respekt dafür, wie toll ihr durchgehalten habt. Mit uns Eltern, mit uns Lehrern, mit uns Erwachsenen, die alles besser wissen.
Liebe Erwachsene: wusstet ihr, dass im Augenblick jeder dritte Jugendliche zwischen elf und 17 Jahren mit psychischen Problemen kämpft, die coronabedingt sind?
Und dass die medizinischen Anlaufstellen für Jugendliche, die ihnen in so einer Situation weiterhelfen könnten, nur dann noch Jugendliche aufnehmen, wenn sie Selbstmord gefährdet sind?
Ein bisschen Aggression, eine kleine Essstörung, eine petit Depression? … hier ist leider keine Unterstützung möglich … so ist die Realität.
Vielleicht denkt ihr einmal darüber nach, wenn ihr an eure Jugend denkt, an die Feiern, an die tollen Momente mit euren Freunden, an eure eigenen Meilensteine im Leben: Führerscheinprüfung, Abschluss, 18. Geburtstag…
Und dann löscht einfach mal alle Menschen aus dieser Erinnerung und lass nur eure Eltern dabei. Wie fühlt sich das an? Nehmt die Schulzeit dazu: isoliert euch von allen Freunden, von jeglicher Freizeitbeschäftigung und von jeder Bewegungsmöglichkeit im Verein.
Setz euch an den Bildschirm und lasst euch den ganzen Tag in Online-Meetings von ungeschultem Personal berieseln. Vielleicht habt ihr jetzt endlich einmal Verständnis, wie es euren Kindern geht.
Dieser Post geht auch an die Erwachsenen, die entweder keine Kinder haben, oder deren Kinder schon lange aus diesem jugendlichen Alter entwachsen sind.
Diejenigen, die jetzt im Augenblick über die Jugend schimpfen, sie als weichgespült bezeichnen und sich erdreisteten, sich ein Urteil zu bilden.
Unsere Jugendlichen brauchen jetzt vor allem eins: unsere Unterstützung, dass sie mit dem was ihnen jetzt gerade widerfahren ist, zurecht kommen können.
Sie brauchen ein Sprachrohr in der Öffentlichkeit.
Sie brauchen die Gemeinschaft, um das aufzufangen, was ihn unwiderruflich genommen wurde.
Ich würde mir wünschen, dass es ganz viele Gespräche mit Jugendlichen gibt, damit sie sich Gehör verschaffen können.
Ich wünsche mir, dass es endlich Politiker gibt, die sich die Zeit nehmen, die Bedürfnisse unserer jungen Menschen ernst zu nehmen.
Ich wünsche mir, dass wir Erwachsene uns Zeit nehmen für unsere Kinder und Jugendliche.
Du, als Erwachsener, der dies hier liest, könntest heute damit anfangen: egal ob du einen Jugendlichen in deiner Familie hast, oder ob du ihm irgendwo im täglichen Leben begegnest. Statt zu verurteilen und zu bewerten, einfach mal offen sein für die Situation dieser jungen Menschen.
Und auch mal sagen: „Mein größter Respekt, für das, was ihr gerade geschafft habt!“
Herzlichst,
deine Susanne Seitz
www.keen-teens.de