In der Pubertät, daran gibt es keinen Zweifel, verändert sich die Psyche der Kinder in einer Weise, die für uns Erwachsene kaum nachvollziehbar ist – jedenfalls solange wir versuchen, die Gründe und Motive der Jugendlichen aus einer rationalen Perspektive heraus zu begreifen.
Wenn sich dein Kind gerade in der Pubertät befindet, kannst du bestimmt ein Lied davon singen: es werden plötzlich Familienregeln hinterfragt oder gar nicht erst beachtet. Die Neigung besteht, unüberlegte Sachen zu tun und in verschiedenen Lebensbereichen zu experimentieren. Jungs weisen eine höhere Risikobereitschaft auf, Mädchen werden sehr empfindlich.
Pubertierende Kinder neigen dazu impulsiv und emotional zu reagieren und von einem Moment zum nächsten ihre Stimmung komplett zu ändern.Movie Fifty Shades Darker (2017)
Vielleicht fällt es leichter, damit umzugehen, wenn man sich Folgendes klar macht: Die Entwicklung des Gehirns erinnert während der Pubertät an eine Großbaustelle. Einzelne Teile müssen erst ihre richtige Form entwickeln, bevor sie sich in das Bauwerk einfügen. Und das geschieht nicht im gleichmäßigen Tempo: Die einzelnen Bauabschnitte werden unterschiedlich schnell mit der Umgestaltung fertig.
Wissenschaftlich ist der Umbauprozess noch nicht bis ins letzte Detail geklärt. Doch einigen wichtigen Schritten auf dem Weg vom Kinder- zum Erwachsenengehirn ist die Forschung inzwischen auf die Spur gekommen.
Bei Jugendlichen führt dieses Ungleichgewicht in der Entwicklung der Hirnregionen dazu, dass Gefühle schneller und stärker auf Entscheidungen und Verhalten – auch riskantes Verhalten – wirken, als Vernunft und abgewogene Argumente. In der Folge reagieren Jugendliche während der Umbauarbeiten stärker als Erwachsene spontan mit Erregungszuständen wie Wut, Angst, Aggressivität. Im Gespräch mit Jugendlichen erleben Ältere deshalb relativ häufig, dass sie missverstanden werden und unerwartete, aus ihrer Sicht völlig übertriebene Reaktionen auslösen.
Dass die Fähigkeit zunimmt, sich in andere hineinzuversetzen und zu verstehen, wie die Welt aus der fremden Perspektive aussieht, ist ebenfalls eine immens wichtige Entwicklung – doch auch sie führt vorübergehend zu neuen Problemen. Denn die Jugendlichen beschäftigen sich nun auch zunehmend damit, wie andere sie wahrnehmen. In einer Zeit, in der sie um eine eigene Identität ringen, in der sie außerdem den Ansprüchen der Gesellschaft gerecht werden sollen und dabei auch noch der Faktor Sexualität hinzukommt, spielt die Reaktion des sozialen Umfelds, also vor allem der Eltern und Freunde, eine bedeutende Rolle. Dass die Interpretation dieser Reaktionen eher durch den emotionalen Filter des limbischen Systems geprägt wird als durch die Ratio, macht es für die Jugendlichen nicht einfacher.
Eine weitere wichtige Etappe während der Umbauarbeiten im Gehirn ist die Entwicklung des Selbstbewusstseins, was einigen Forschern zufolge mit Veränderungen bei den Rezeptoren im Gehirn für Oxytocin zusammenhängen soll. Die Wirkung dieses Hormons ist vielfältig. So verstärkt es offenbar soziale Bindungen. In der Pubertät allerdings spielt es offenbar eine Rolle bei der Selbstwahrnehmung. Jugendliche haben zunehmend das Gefühl, im Zentrum der Welt zu stehen – einer Welt, die ihnen vielleicht nicht gefällt und die sie auch ihren Wünschen entsprechend gestalten wollen. Dieses Gefühl geht einher mit dem Wunsch, selbstbewusst aufzutreten, vielleicht sogar etwas Besonderes zu sein. Ein Zeichen von großem Selbstbewusstsein aber ist Gelassenheit. Den Anschein von Gelassenheit versuchen viele Jugendliche mit Coolness und einer „Mir egal“-Haltung zu erwecken.
Die Metamorphose vom Kind zum Erwachsenen folgt also einer Art Programm, bei dem massive Umbauprozesse im Gehirn stattfinden. In dieser Zeit arbeitet das Gehirn – gemessen an den Vorstellungen und Erfahrungen eines Erwachsenen – nicht „normal“.
Die allermeisten Jugendlichen überstehen diesen geistigen Ausnahmezustand ohne negative Folgen – und umso besser, je verständnisvoller Eltern sie dabei unterstützen. Und vielleicht lassen sich ihre Risikobereitschaft und ihre Neigung, Normen und Werte in Frage zu stellen, auch als Chance für die Entwicklung von etwas Neuem in der Gesellschaft betrachten.
Quelle: Süddeutsche Zeitung 1/14